Des einen Flucht ist des anderen Vertreibung: Zeit für einen Neuanfang
Für die Menschen, die zu uns aus Syrien oder Afghanistan kommen, ist es eine Flucht aus der Zerstörung ins gelobte Land. Für uns hingegen ist die Flüchtlingswelle wie eine Vertreibung aus dem Paradies, das wir als solches längst nicht mehr wahrgenommen haben. Niemand kann heute abschätzen, wie sehr der Zustrom von Asylsuchenden unser Land und unser Leben verändern wird. Aber eines ist gewiss: Es wird auch für uns nicht so bleiben, wie es ist.
Viele von uns spenden gerne Güter, gelegentlich auch Zeit, um z.B. als Helfer die Spenden zu sortieren und weiterzugeben, aber wie groß ist unsere Bereitschaft, wenn es um persönliche Einschränkungen geht? Die erhebliche Zahl der Flüchtlinge wird sich in vielen Bereichen bemerkbar machen: auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, im Bildungsbereich, bei der Kinderbetreuung usw. Wie großzügig werden wir uns künftig zeigen, wenn es ums Teilen von Wohn- und Nutzflächen, von Jobs und Kita-Plätzen geht? Die Ungewissheit, die die Massenflucht mit sich bringt, macht Angst und Sorge. Doch wir sollten versuchen, die „Vertreibung“ aus dem Gewohnten nicht als Bedrohung zu sehen, sondern als Chance.
Im Wort Vertreibung steckt das Wort „treiben“. Treiben kommt von Trieb. So kann diese Vertreibung für uns zum Antrieb werden – ein Antrieb für Veränderung und Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Es ist unstrittig, dass unser System nicht unendlich belastbar ist und die Zahl derer, die wir aufnehmen, begrenzt werden muss. Die Flüchtlingskrise ist und bleibt die größte Herausforderung, die wir bislang in diesem Jahrhundert zu bewältigen haben. Aber ich wünsche mir, dass es uns gelingt, trotz aller Vorbehalte, Ängste und Nöte, dieser Herausforderung zuversichtlich zu begegnen. Dass es uns gelingt, Altes loszulassen und sich auf Neues einzulassen. Damit aus Flucht und Vertreibung eine neue, gemeinsame Heimat für alle wird.