Ist das noch Tee oder schon ein Thema?

Ich weiß, wir leben in einem Zeitalter der Sinnsuche und Neuorientierung. Wir lechzen nach Leitplanken, Leuchttürmen und Lehrmeistern, die uns helfen, gesellschaftliche und technische Umbrüche zu verstehen und zu verarbeiten. Wir verzeichnen zudem wachsende Zahlen von psychischen Erkrankungen und Stresssymptomen, kurz: das gewohnte Leben gerät aus den Fugen. Aber mal ehrlich, brauchen wir deshalb wirklich schon die Lebenshilfe im Supermarktregal? Die Marketingabteilungen großer Teehersteller scheinen zumindest sicher zu sein, dass Käufer oft mit Schnappatmung, Schwermut und Stimmungsschwankungen vor dem Teesortiment stehen. Wie sonst ist zu erklären, dass herkömmliche Teesorten vom Aussterben bedroht sind? Wer heute einen konventionellen Kräutertee sucht, sieht sich einer Auswahl gegenüber, die nur im Kleingedruckten ihren tatsächlichen Inhalt verrät. Plakativ hingegen versprechen die Teesorten führender Hersteller vornehmlich Erste Hilfe zum Aufgießen. „Detox Deine Seele“, „Augenblicke der Freude“, „Innere Kraft“, „Zen-Balance“ oder „Innere Ruhe“ lauten die vollmundigen Produktnamen. Welcher hoffnungsvolle Teetrinker greift da nicht zu, um sich zumindest eine Tasse lang einreden zu können: Jetzt wird alles gut? Übrigens, „Alles wird gut“ wäre bestimmt auch ein Verkaufsschlager.

Wer sich dann – deswegen oder trotzdem – einen Beutel der konsumentenorientierten Lebenshilfe im 20er-Pack zu Gemüte führt, darf auf konkrete Ratschläge hoffen. Wo früher nur das Firmenlogo und vielleicht noch die empfohlene Ziehzeit vermerkt waren, warten heute Weisheiten aller Art auf eine interessierte Leserschaft. Manche Hersteller haben sich aufs muntere Reimen verlegt („Erst die Hast, dann die Rast“), andere auf philosophische Betrachtungen („Universalität beginnt, wenn das Ego endet.“). Aus der entspannten Tasse Tee kann auf diese Weise ungewollt das Hinterfragen der eigenen Weltanschauung hervorgehen. Abwarten und Tee trinken? Denkste. Tee trinken und Themen wälzen, muss es wohl künftig eher heißen.

Ich folge jetzt dem Rat meines jüngsten „Natürliche Abwehr“-Teebeutels. Der lautet „Sage, was Du fühlst und steh zu dem, was du sagst“. Ok, mein Tee hat`s so gewollt: Ich fühle mich zeitweise überfordert, wenn ich vorm Teeregal stehe und einfach nur einen leckeren Kräutertee suche. In Anbetracht der Titulierungen bedarf es nämlich erst einer genauen Prüfung meines Gemütszustands, bevor ich sicher bin, welche Packung es sein darf. Will ich „Lebensfreude“ oder „Momente der Gelassenheit“? Oder soll es doch der „GlücksTee“ werden? Und dürfen eigentlich auch Männer zum „FrauenTee“ greifen? Und welche Rückschlüsse werden an der Kasse gezogen, wenn ich drei Packungen „Figurschmeichler“ aufs Band lege? Mag sein, dass wir inzwischen alles gerne mit Sinn aufladen, weil uns manches sinnlos erscheint oder uns die Sinne schwinden (sehen Sie mir dieses Wortspiel nach). Aber müssen wir deshalb Tee zu einer Aussage nötigen, die er gar nicht nötig hat? Seine förderliche Wirkung ist unbestritten. Doch strapazieren wir seine Eigenschaften nicht allzu sehr, wenn wir ihm Glück oder Lebensfreude abverlangen? Ich warte auf den Tag, an dem mir aus der Teepackung ein Gutschein für eine Therapiesitzung entgegen fällt. Warten wir`s ab – bei einer Tasse Tee.