Über die strebsame Selbstsuche und ihren oft vergessenen Gegenpart

In unseren Tagen steht das Individuum sprachlich stets im Fokus. Das „Selbst“ ist eine geradezu inflationär verwendete Vorsilbe für Zustände, die sich aufs Ich beziehen. Von gängigen Angeboten wie Selbstbedienung und Selbstabholung einmal abgesehen, ist unser Vokabular vor allem darauf ausgerichtet, das Ich zu optimieren. Unsere Nationalelf braucht für die Fußball-Europameisterschaft Selbstvertrauen, da sind sich alle einig. Unsere Kinder brauchen Selbstbewusstsein, um sich in unserer leistungsorientierten Gesellschaft zu behaupten, so lautet der Erziehungsanspruch von Eltern. Die Fähigkeit zur Selbstkritik wird von allen Seiten gefordert, nur an der eigenen Bereitschaft dazu hapert es interessanterweise meist. Die Kunst des Managements erstreckt sich mittlerweile auch aufs Selbstmanagement.

Bei allem dürfen wir natürlich auch die Selbstliebe nicht vergessen, gilt sie doch als Grundlage der Liebesfähigkeit. Bereitwillig lassen wir uns von Menschen überzeugen, die Selbstsicherheit an den Tag legen. Selbst, Selbst, Selbst. Wer selbiges zu stark in den Fokus rückt, wird dafür übrigens auch sprachlich abgestraft: Selbstsucht wird von niemandem gut geheißen.

Neulich stolperte ich über ein Wort, das mich innehalten ließ, weil es so selten im sprachlichen Selbst-Sturm zu hören ist, dabei bringt es doch die erforderliche Vorsilbe mit: Selbstvergessenheit. Kurt Hahn, Pädagoge und Gründer der Schule Schloss Salem, formulierte vor mehr als achtzig Jahren in seinen sieben Schulgesetzen das dritte Gesetz, das besagt: „Schafft den Jugendlichen Gelegenheiten, sich über die gemeinsame Sache selbst zu vergessen.“ Und ich glaube, dass es eben diese Selbstvergessenheit ist, nach der wir uns gelegentlich sehnen, um uns der Last des Alltags mit all seinem Streben nach Optimierung zu entledigen. Wenn immer mehr erwachsene Menschen sich nach Feierabend damit beschäftigen, Mandalas auszumalen, ist das für mich Ausdruck dieser Sehnsucht nach Selbstvergessenheit.

Ob meditatives Yoga, Laufen durch den Wald, Aquarellmalen oder Bäume umarmen – viele Wege führen in die Selbstvergessenheit, sie sind so verschieden wie der Mensch selbst. Doch dass die Selbstvergessenheit überhaupt eine Option ist im Rauschen des vielgepriesenen Selbstkanons, das sollten wir uns vielleicht öfter in Erinnerung rufen. Und uns dann Gelegenheiten dafür schaffen.